Wir sind in einem Sexclub in New York. Die Kamera fährt hinterrücks an einer Reihe nahezu nackter Frauen entlang, die zu Discomusik erotische Lapdances an zahlenden Kunden vollführen. Eine der jungen Frauen ist Anora, von allen nur Ani genannt. Sie sticht aus der Reihe heraus, weil sie mit besonderer Leidenschaft bei der Sache ist – man könnte auch sagen, dass sie ihren Job besonders gut beherrscht.
Eines Abends soll Ani sich im Club um einen jungen Russen kümmern, weil sie aus Usbekistan stammt und noch etwas Russisch drauf hat. Der junge Mann heißt Vanja. Er ist knapp volljährig und lebt als Sohn eines steinreichen Oligarchen in Brighton Beach, einem russisch geprägten Viertel von Brooklyn. Die beiden verstehen sich gut, und am Ende lädt Vanja Ani (gegen Bezahlung) in seine absurd große Villa ein. Sie beginnen ein Verhältnis gegen Geld und – mit Ehering.
Ist das die frivol-freche Neuauflage von Pretty Women? Nein, denn Regisseur Sean Baker lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass die Story kein Happy End nehmen wird.
Baker nimmt uns mit auf einen temporeichen Roadtrip, der uns viel erzählt über Klassenverhältnisse, Macht, Sex und Arbeit, marginalisierte Gruppen und ein Ringen um die eigene Würde.
Das sind gleichzeitig die Themen aus dem Filmkosmos von Regisseur und Autor Sean Baker. Daran abgearbeitet hat er sich bereits in Starlet (2012). Ein Film über eine Pornodarstellerin in LA. In Tangerine LA (2015) mit zwei Transgender-Prostituierten auf den Straßen Hollywoods. In The Florida Project (2017). Hier begleiten wir eine alleinerziehende Mutter, die sich notgedrungen prostituiert. Und in Red Rocket (2021) um einen arbeitslosen Ex-Pornostar in der tiefsten texanischen Provinz. Und nun Anora, für den Baker 2024 mit der Goldenen Palme in Cannes als bester Film ausgezeichnet wurde.